Luftpost (Ausschnitt aus der Kurzgeschichte Der Schildkröt):
Es ist schon so: Die Kinder gehen aus dem Haus, ihre Haustiere aber bleiben. Die Aufgabe, sie zu versorgen, fällt einem zu, ob man will oder nicht. Der Hund, die Katze, das Pferd – natürlich können sie nicht in City-Apartments oder Studentenheimen hausen. Man wird also für ein lebendes Wesen verantwortlich, das man sich nicht gewünscht oder gar ausgesucht hat. Erik und Eva Brehm haben es noch ganz gut getroffen. Schildkröten müssen nicht täglich gefüttert werden. Wasserschildkröten brauchen keinen Baum, um sich ihres Darminhaltes zu entledigen. Sie brauchen kaum Platz. Schildkröten bellen, miauen, wiehern und krähen nicht. Im Gegenteil: Schildkröten sind introvertiert, platzsparend, genügsam und pflegeleicht. Genau deshalb war man ja damals im Beisein der Kinder im Tiergeschäft in Jubelschreie ausgebrochen: „Seht mal, wie süß die sind!“
Süß? Süß waren Schildkröten nicht. Vielleicht war es süß, wie sie paddelten, als sie noch winzig waren. Vielleicht war es süß, wie sie guckten, als sie noch ganz klein waren. Vielleicht wirkten sie anfangs tatsächlich süß, weil alles Erwachsene an Miniaturwesen putzig aussieht?
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Geburtstagsglückwunschbriefe (zum 60-65.,70-75.,80.-85. und 90.-95. – immer wieder anders)
(…) Ja, es fährt wahrlich schnell dahin. Haben wir nicht erst unseren Siebzigsten gefeiert? Fühlen wir uns nicht wie jemand, der vor kurzem erst vierzig geworden ist? Ach was, dreißig? Der Kern bleibt jung, nur die Schale altert? Halt, der Vergleich mit einer Walnuss ist vielleicht gar nicht so ganz falsch…außen runzlig und hart, innen ein ganz kleines Bisschen bitter? Aber sieht so ein Walnusskern nicht auch aus wie ein menschliches Gehirn mit seinen zwei Hälften? Bittersüß, aber klug? Sind wir das?
Nehmen wir uns eine Person unseres Alters zum Prüfen.
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Postcard Poem (zum Sommer)
Der Sommer
Dieser Sommer, satt und schwer
spricht heftig von den Ferien-Reisen.
Man verheisst uns sehr viel mehr
vom Licht, vom Gold, vom blauen Meer,
von Bergen, Flüssen, und von Seen leer
und kühl. Und nicht von Maut und heißem Teer
und Staus und höllischem Verkehr
und jeder Menge Zeck, Mück und A-meisen.
Sind diese Monate nicht herrlich?
Ihre tropischen Nächte sind zwar gefährlich,
doch auch wunderschön. Man braucht nicht
mehr, so denkt man, schlafen zu geh’n,
sondern es reicht, vor sich hin zu träumen…
um wieder einmal alles und eigentlich nichts
zu versäumen.
Ah, Sommer, deine Stunden vergehen wie das
langsame Tropfen von Öl aus Oliven,
von kaltgepressten, sauteuren, extra nativen,
und ein ganz klein bisschen lasziven.
Ja, du bist eben sämiger Lebensgenuss.
Und, Mensch, denk dran –
in ein paar Wochen ist Schluss!
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Post aus Petersburg (aus dem ersten Brief des Pagen Leon an den Abonnenten oder die Abonnentin)
Wir haben immer wieder Gelegenheit gehabt, uns einander zu nähern, meine Herzallerliebste und ich. In allem Anstande natürlich! In der Eremitage (so nennt man das Wohnschloss der Zarin in Piter), wenn der Dicke und die Kleine zu einer Festlichkeit dort angemeldet werden mussten. Wenn wir Billets und Schriftstücke im Winterpalast überbrachten. Beim Eislaufen auf der zugefrorenen Newa. Wenn meine Freundin Millie die drei Kinder des fürstlichen Paares mit ihren Gouvernanten begleitete, zur Schneiderin, oder in den Park an die frische Luft oder zum Pony-Reiten auf dem Sandplatz. Ich weiß, dass sie Euch davon berichtet hat in ihren Briefen, auf dass Ihr, Madame, Monsieur, dieselben Millies Eltern vorleset, die selbst des Schreibens und Lesens nicht mächtig sind.
Und, so hat Millie zu mir gesagt: „Wenn mir irgendetwas Schreckliches zustoßen sollte, dann wende dich an meine Muhme. Sie versteht alles, weil sie lebensklug ist und meine Seelenvertraute. Und sie wird immer wissen, was zu tun ist.“
Und nun ist dieser Umstand eingetreten. Es gab einen schrecklichen Zwischenfall, eine große Wut und ein großes Geschrey zwischen dem Dicken und der Kleinen. Ich war nicht zugegen, weil mein Herr mich in die Stallungen geschickt hat, nach seinem Trakehner Merival zu sehen, der sich einen hässlichen Husten zugezogen hat.
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Kristin (aus der Antwort eines Journalisten, der mit dem Fall beschäftigt war)
Am 20. Juni war ein Jeep der Marke Suzuki auf der griechischen Insel Kos – einer Ferieninsel, auf der damals viele Deutsche Urlaub machten – in einer Haarnadelkurve vom Weg abgekommen und viele Meter tief in ein ausgetrocknetes Flussbett gestürzt. Die örtliche Polizei hatte das Fahrzeug gefunden und untersucht: Der Schlüssel steckte, im Handschuhfach lagen teils verbrannte teile eines deutschen Fahrausweises (nicht die Karte, sondern der Lappen), der – so viel konnte man noch entziffern – auf dem Landratsamt Gräuen ausgestellt worden waren. Ein Handy war nicht davon entfernt in einem ausgetrockneten Kapernstrauch gelandet. Nur eines war merkwürdig: Ein Unfallopfer gab es nicht. Keine Spur davon.
Alle Nachforschungen blieben ohne Erfolg: Dem Autoverleiher, den den Jeep abgegeben hatte, wurde an diesem Tag in der Klinik von Kos ein Sohn geboren und deshalb konnte sich an nichts erinnern. Die Formulare hatte ein Aushilfsangestellter so verräumt, dass sie nicht mehr aufzufinden waren. Die Ausweispapiere im Handschuhfach waren verschmort, weil der Jeep nach dem Aufprall Feuer gefangen hatte und das Handy war unbrauchbar, seine Daten damals – heute wäre das vielleicht anders – nicht wieder herzustellen. Das Unfallopfer hätte irgendwo in der Umgebung aufzufinden sein müssen, entweder schwer verletzt oder tot. Oder aber es hätte traumatisiert auf der Insel herumtorkeln müssen … Niemand wurde in das Krankenhaus gebracht, kein Hotelgast wurde vermisst, niemand hatte etwas beobachtet.
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Feldpost I (aus der ersten Glosse über den Literaturbetrieb)
Bevor wir mit unserem Feldpostjahr beginnen, wollen wir uns kurz einer schrecklichen Krankheit zuwenden, einer weit verbreiteten
Allergie. Wie sieht nun das gemeine Allergen
aus? Wo findet man es? Wie erkennt man es? Wie lässt sich Kontakt vermeiden? Das ist ja das Problem: Es lauert überall. Man hat steinerne Gebäude erschaffen, um es einzudämmen. Darin arbeiten furchtlose Menschen in Twinsets, mit Brillen, mit Karteikästen. Man braucht einen Ausweis, um hineinzukommen. In fast jeder Stadt steht eines. Ja, es gibt sogar eine nationale Zentralstelle, bei der alle Exemplare des Allergens meldepflichtig sind. Es gibt besondere Ladengeschäfte, die es verkaufen dürfen. Ganze Ketten von diesen
Allergenschleudern
lassen sich im Land ausmachen. Sie sind verstärkt in Fussgängerzonen zu finden, bei uns in der Bahnhofstraße, aber auch häufig in Bahnhöfen, selten in Dörfern. Allergiker sollten die Städte großräumig umgehen. Nur mit Wanderschuhen und Walkingstöcken unterwegs sein. Auf dem sicheren Land!
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Feldpost II (Launige Tipps von der Beziehungsfront)
Vorstellung der drei Paare, die durchs Programm führen:
Frank und Frida sind zwischen 60 und 70 Jahre alt und mehr als drei Jahrzehnte verheiratet. Sie haben drei Kinder großgezogen, die alle in anderen Städten beheimatet sind und ihre Eltern nur selten sehen. Beide haben nicht immer so gut zusammengelebt wie jetzt. Frida fand immer, dass Frank ein wenig zu bestimmend war, meint aber jetzt – seit seiner Rente – sei er nachgiebiger geworden.(…)
Doro und David sind beide fast gleich alt, Mitte vierzig. Sie kennen sich seit fünfzehn Jahren, sind kinderlos, seit sieben Jahren verheiratet. David stammt aus eher schwierigen Verhältnissen, die Ehe seiner Eltern war nicht gut, das hat ihn lange zögern lassen, sich zu binden. Er ist ein eher leiser Mensch, der viel Rückzugsraum und Harmonie um sich braucht.
Rasmus und Renate sind unser jüngstes Paar, beide noch unter dreißig.. Sie sind (noch?) nicht verheiratet. Es ist auch nicht ausgemacht, dass sie zusammenbleiben werden, wenn aber doch, werden sie spätestens in fünf Jahren ein Kind haben. Sie kennen sich seit vier Jahren. Wissenschaftlich erwiesen scheint es zu sein, dass nach vier Jahren die sinnverwirrende Verliebtheit abklingt.
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Unsere Frivolini (aus einer Story, die im Winter spielt)
(…) Sie sieht streng aus, hat die blonden Haare unter die blau-goldenen Kapitänsmütze gesteckt, trägt eine tressenverzierte dunkelblaue Uniform und einen strengen Kostümrock mit einem Samtstreifen an der Seite. Die Uniformjacke spannt.
Haben wohl nur Herrenschneider in der Handelsmarine, denkt der Toni noch, da knallt sie schon die Hacken zusammen.
„Stillgestanden!“
„Ay, ay, Madam“, ruft der Toni erschrocken und ist froh, dass ihm dieser Titel noch rechtzeitig eingefallen ist.
Er steht stramm, den Blick gesenkt.
„Rücklings in die Koje!“, kommandiert sie.
Toni stutzt. Koje? Meint sie den Schnee? Die Bank? Das Heu in der Hütte? Nautisches Vokabular ist dem Toni fremd, das haben sie auf der Dorfschule nicht gehabt.
„Name? Dienstgrad?“
Die Blauen Briefe (nur für Frauen: aus dem ersten von 8 Briefen)
Liebe Herzensfreundin,
ich halte es nicht länger aus, ich muss dir schreiben. Das klingt dramatisch, ist es auch. Deshalb, weil ich einen Vertrag breche, in dem ich genau das nicht zu tun versprochen habe, was ich jetzt machen werde: weitererzählen, was mir widerfahren ist. Es ist nicht so, dass es um etwas Gefährliches oder gar Kriminelles geht, keine Angst, sondern es geht um etwas Schönes. Und ich sterbe, wenn ich es nicht mit jemandem teilen kann (vorsichtshalber unterschreibe ich nicht und verwende einen falschen Namen – du weißt ja doch, wer dir schreibt, oder?).
Die andere Seite ist, dass ich – und du! – der Grund sein könnten, dass die ganze Sache platzt. Verschwindet, so unwahrscheinlich es auch ist, dass es sie überhaupt gibt. Oder gegeben hat. Oder weiterhin geben wird. Und das wünsche ich mir – und nicht nur mir! – so sehr.
Du denkst jetzt sicher, da steckt ein Mann dahinter. So reden nur Verrückte und Verliebte… Du hast recht.
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Bücher zum Verschlingen & Verschenken (aus den Erläuterungen zu den Taschenbüchern)
Erich Maria Remarque (nein, er hieß wirklich so – nur die Nazis hatten etwas anderes behauptet, um ihn als Pazifisten zu diskreditieren) aus Osnabrück landete mit seinem Roman IM WESTEN NICHTS NEUES einen Volltreffer (1929). Er verdiente damit viel Geld, das er zum Teil in eine Villa am Lago Maggiore investierte. Hatte sein Roman noch die Schrecken des ersten Weltkrieges beschrieben, so drohte schon der nächste und EMR half folgerichtig flüchtenden Kollegen und Kolleginnen in die Schweiz. Nun soll die Villa Tabor an Privat verkauft werden und um Geld aufzutreiben, haben die „Mörderischen Schwestern“ ein Benefiz-Buch für ihn verfasst, in dem es um Kurzkrimis an den Schauplätzen seines mondänen und bewegten Lebens geht. Es besteht die Hoffnung, die Villa Tabor zu für kulturelle Zwecke zu retten.
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