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1924, im Jahr der Währungsreform, in Mitteldeutschland geboren
Aufgewachsen in wohlhabender Umgebung und unter Geschwistern.
In Kinderbüchern schon die erste Judenhetze…
…am Tag des vierzehnten Geburtstages automatisch im Bund Deutscher Mädel (BDM) aufgenommen. Körperliche und politische Schulung nach dem Motto: Straff, aber nicht stramm, herb, aber nicht derb.
Im Alter von 18 Jahren: Ab in den Arbeitsdienst, auch Landjahr genannt. Sie absolviert ihre Pflichten beim Bauern nicht ungern.
Abitur an einem Mädchengymnasium und Aufnahme des Medizinstudiums
In einem Alter, in dem heute getanzt, gelacht, gelernt und sich die Welt angeeignet wird, überrollen sie Nazimythen, Durchhalteparolen und Kriegsgreuel.
Im Alter von 21 das Ende: ein Scherbenhaufen in jeglicher Hinsicht. Ausbildung. Heimat. Zukunftspläne.
Aber am Leben.
Neuorientierung im Westen. Glückliche Fügung: Ein Mann, ein Entschluss, Hochzeit. Und danach beginnt unsere gemeinsame Geschichte.
… ein fürsorglicher Vater. Vier gesunde Kinder. Gute Aussichten rundherum.
Sogar Luxus.
Glück. Die schönsten Jahre im Leben gehören ihr, ihrem Mann, ihrer Familie.
Sie holt ihren alten Vater zu sich.
Das Leben ist schön. Alle sind gesund. Man bereist ferne Länder. Alles geht immer aufwärts.
Ihre Seele fürchtet sich vor Gletscherspalten. Zu viel des Glücks, denkt sie.
Und dann: Als sie Mitte vierzig ist – der Unfalltod, der ihr den Partner entreißt. Zum zweiten Mal alle Gewissheit verloren.
Warum? In Griechenland wird sie später zwar keine Antwort darauf, aber etwas Trost finden.
Sie zieht ihr jüngstes Kind dicht ans Herz.
Sie befasst sich mit der Vergangenheit, setzt sich zum ersten Mal gründlich mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auseinander. Und ist tief betroffen.
Sie erlebt große politische Umwälzungen – den kalten Krieg, den Mauerbau, die Atomangst, den Zusammenbruch des Kommunismus, den Rückgewinn des Elternhauses, die Auswüchse des Kapitalismus, das Erstarken des Islam, den Anstieg der Zuwanderung, den Siegeszug des Populismus – und all das ohne den geliebten Gesprächs- und Diskussionspartner. Das ist hart. Sie hätte sich so gerne ausgetauscht.
Sie widmet sich ganz den Kindern, verheiratet die Töchter, den Sohn. Hilft, wo immer sie kann, mit den Enkeln.
Sie engagiert sich in Kirche und Krankenhaus und Verwandtschaft.
Sie leidet heftig darunter, dass eines ihrer Kinder sich dem Familienzusammenhang wortlos verweigert.
Die Beziehung zur Schwester intensiviert sich früher, die zum Bruder später.
Kinder und Enkel sind zwar in der Nähe. Aber beschäftigt. Manchmal, vielleicht öfter, als sie zugeben mag, fühlt sie sich einsam.
Alleinsein tut weh. Einsamkeit macht krank, Ausgegrenzt-Werden bitter. Warum das so sein muss, versteht sie nicht.
Die glücklichen Erinnerungen beginnen zu verblassen.
Aber der Zustand der Gesellschaft beschäftigt sie noch immer.
Kurzreisen mit der Tochter sind kleine Fluchten von daheim, die sie genießt, weil sie ablenken von den Widrigkeiten des hohen Alters.
Sie erlebt die Geburt einer Urenkelin. Der Gedanke, dass das Leben weitergehen wird, erfüllt sie mit Dankbarkeit.
Am liebsten ist es ihr, wenn alle am Tisch versammelt sind. Sie hat für alle ein Ohr, auch wenn sie schlecht hört.
Bei der letzten Fahrt über die sommerlichen Felder spricht sie vom Tod. Sie nennt ihr Leben „erfüllt“.
Knapp zwei Wochen später, im fünfundneunzigsten Lebensjahr, entlässt sie ihre Seele. Hinaus ins Freie, zu Gott oder ins Universum – ihr ist beides recht.
In memoriam E.
Dankbar A.