Hätte ich einfach schweigen sollen?

Gestern haben wir Sie über das Phänomen der Prosopagnosie unterrichtet und heute wollen wir Ihnen dazu eine Kurzgeschichte präsentieren. Sie wurde für eine Landesgartenschau geschrieben und heißt


Hätte ich einfach schweigen sollen?

Ich hätte einfach schweigen sollen? Was Sie da sagen, kann ich nicht glauben.

Ja. Aber jetzt mal von Anfang an, Herr Soltau!

Ja, dann…ich versuch’s auf Hochdeutsch, Herr Kommissar…

Ich habe mich immer treiben lassen, das war schon so, als ich noch klein war, ne? Ich war auch nie besonders schlau, das haben alle gesagt, die Mutter, der Jupp, die Lehrerin. Schlau, das war mein kleiner Bruder. Der hat sich von Anfang an nix sagen lassen, von den Eltern auf dem Hof. Und in der Schule auch nich.

Ich war dreissig, er war zwanzig. Er hatte Frauen und mich hatte noch nicht mal eine angefasst.

Das hat er mir gern unter die Nase gerieben und mich verlacht deswegen. Ich habe es hingenommen, ich kannte das ja. So ist er halt, der Jupp. Ich habe aber manchmal gedacht, dass meine Eltern mehr hätten zu mir halten können. Aber der war als Jüngster der Augapfel von meiner Mutter. Wie et kümmt, nimmt man et hin,  es kommt sowieso, wie es kommen soll.

Der Jupp bei der Arbeit

Dann sind auf einmal nach Jahren, in denen sich nix ereignet hat, zwei Sachen gleichzeitig passiert: die Freundin von meinem Bruder, Marta heißt die, ist schwanger gewesen und meine Mutter ist auf der Landstraße überfahren worden. Von einem, den es nicht gekümmert hat, nix, der einfach weiter ist.

Und da hat der Jupp den Hof verlangt von meinem Vater, sonst tät er gehn, hat er gesagt.  Er hat ihn auch bekommen, weil mein Vater zu schlecht beieinander war, um sich zu wehren. Aber in den Papieren hat gestanden, dass ich zehn Jahre Wohnrecht auf dem Hof habe und deswegen hat es mir nicht so viel ausgemacht. Es hat sich ja nix geändert für mich. Die Mutter hat mich auch sonst nicht so gemocht. Ich hab wie vorher auch die Hilfsarbeiten gemacht in der Landwirtschaft und der Jupp hat geherrscht.

Ob ich zornig war? Nein, war ich nicht. Der war ja schlauer als ich, also war das schon so in Ordnung. Und der Vater hat mich doch gebraucht, als er dann krank geworden ist.

Auf der Polizei bekommt man ein Glas Wasser, wenn man darum bittet, das ist gut

Danke für das Wasser. Das habe ich jetzt wirklich nötig gehabt, ganz trocken mein Hals. Ich sprech sonst nicht so viel, ne?

Das war in der Zeit, als hier in Bad Lippspringe die Landesgartenschau vorbereitet wurde. Im Frühjahr 2017 war das. Da bin ich gern hin zum Gelände, weil ich die Gärtnerei mag und die Pflanzen und die Bäume. Ich habe es gerne, wenn es schön ist fürs Auge und ich habe schon gestaunt, was da so alles gemacht wird. Erdbewegungen!  Schaufeln! Plätten! Aussäen! Stampfen! Verziehen! Austopfen! Wässern! Düngen! Flechten! Ausschneiden! Hochbinden! Kürzen! Ausdünnen! Abtransportieren! Kompostieren! Und Jäten, Jäten, Jäten!

Da waren ja eine ganze Menge Gärtner zugange, krumme Buckel überall,  und ich habe gedacht, dass die Gärtnerei eigentlich mein Traumberuf gewesen wäre und nicht die Landwirtschaft. Ich hab daheim ja immer das Grobe, Nützliche tun müssen, aber das andere hätt‘ mir eigentlich mehr gefallen. Aber watt mutt, dat mutt und wie et kümmt, nimmt man et hin.

Ich hätte es selbst gar nicht gemerkt, aber eine von der Gas…Gastro … Gastronomie hat mich darauf aufmerksam gemacht. So eine Mollige, Nette.

So eine gesprächige Kellnerin…

Der sieht aus wie du, hat sie gesagt. Und auf so einen Gärtner gedeutet, der einer von den Baumspezialisten gewesen ist.

Ist nicht wahr, habe ich gesagt. Aber mich irgendwie gefreut, schon. Mein Bier hat da auf einmal anders geschmeckt. Ich bin dann immer wieder zu der hin. Einmal hat sie die Hand auf meine Schulter gelegt und das ist mir durch Mark und Bein gefahren wie ein heißer Blitz – nie wieder habe ich so etwas erlebt, ne?

Ich habe mir diesen Gärtner danach unauffällig genauer angeschaut. Gut, er war ungefähr genauso groß wie ich, vielleicht ein bisschen jünger. Gleicher Bauch, gleicher Vollbart, blond wie ich, gleicher Scheitel rechts, da sieht man sich schnell ähnlich. Sonst war er, denk ich, ganz anders als ich: Schnell, wo ich langsam war, akkurat, wo ich schluffig war, ungeduldig, wo ich zaghaft war. Bei allen Vergleichen hat er besser abgeschnitten, fand ich. Und genau deshalb hat mir eben die Ähnlichkeit so gefallen.

Ich habe dann – man macht so etwas ja nicht mit Absicht, sondern es passiert von selbst – immer nach ihm Ausschau gehalten, wenn ich auf dem Gartenschau-Gelände war. Im Waldpark, West und Ost, ne? Es ist mir schon aufgefallen, dass er nie nix mit den anderen geredet hat, aber ich bin ja selbst so einer, der nicht mit vielen spricht. Wir sind uns halt selbst genug, oder? Wie et kümmt, nimmt man et hin. Was soll man da groß reden?

Ich muss mal austreten, bitte! Kann ich …?

Danke.

Was dann war, ist das gewesen: Ich habe mir das gleiche Karo-Hemd gekauft, das er hatte. Das gab es bei Aldi, aus Vietnam, für zwölf Euro. Daran erinnere ich mich, auch jetzt noch nach drei Jahren. Ich habe mir den Bart mehr gepflegt als normal, weil er das so gemacht hat. So sauber ausrasiert. Das war schon lästig. Mir die gleichen Schuhe gekauft – ach, was musst ich für einen Spott aushalten von dem Jupp deswegen!

Hast wohl eine? Endlich? Pass auf, dass die deine Treter nicht lieber hat als dich!

Treter, hat der Jupp die genannt. Ich fand sie todchic…

Aber eigentlich vorgehabt hatte ich das gar nicht. Da sind so Wünsche in mir gewachsen, respektabler zu sein als ich war. Und wahrscheinlich hab ich geglaubt, der andere zeigt mir den Weg. Wie es gehen kann, mein‘ ich. Wie ich es machen muss.

Zuhause im Dorf haben sie mich nämlich nicht geachtet, weil die nur Leute für voll nehmen, die einen eigenen Arbeitsplatz haben. Und den hatte ich ja nicht, weil ich bloß der Handlanger vom Jupp war. In der Kneipe, wo ich immer mein Bier getrunken hab, der einzigen bei uns, haben sie gesagt: Lass dir’s nur schmecken, dein Bier, das zahlt dir ja Vater Staat.

Verstanden habe ich das nie, denn natürlich habe ich bezahlt wie alle anderen auch.  Aber wahrscheinlich haben sie damit die Rente und das Pflegegeld gemeint, denn inzwischen war mein Vater ja bettlägerig geworden und ich hab das alles für ihn gemacht; der Jupp hat sich nämlich kein bisschen gekümmert um den Alten. Und Frau von ihm, die Marta, sowieso nicht.  Die hatte ja auch eigne Kinder, Mädels, die Ina und die Britta.

Ja, und dann war die Landesgartenschau eröffnet, im Jahr 2017 war das, im April. Und ich konnte nicht mehr hinein, weil es dann Geld gekostet hat. Da habe ich den, der mir angeblich ähnlich sah, noch viel mehr beneidet. Er hat dazu gehört zu der Mannschaft, die die Gartenschau ge… ge…stemmt hat. Und ich nicht. Obwohl ich doch vorher manchmal so getan habe, als ob. Ich hatte die immer Hoffnung, die Dicke vom Gastro-Zelt denkt das. Die mochte ich nämlich.

Und auch in unserer Dorfkneipe haben sie immer von der Landesgartenschau geredet und erzählt, wie es da jetzt blüht und glüht. Und wer dahin geht. Und welche Musik da spielt. Und was da alles so los ist. Was man isst und trinkt. Und kauft oder nicht kauft. Und erlebt. Da war ich schon ein bisschen niedergedrückt. Dass ich nicht dabei sein konnte, wegen dem Geld. Ich habe gehofft, dass ich nochmal hinkommen würde, aber geplant habe ich nix. Ich mach‘ keine Pläne, nie. Man weiß ja, wie et kümmt, nimmt man et hin.

Und  dann sind wieder zwei Sachen passiert, gleichzeitig. Das ist zu viel für mich, das eine und das andere und alles beides zusammen.

Vater ging es immer schlechter

Meinem Vater ist es immer schlechter gegangen in diesem Sommer und man hat schon gesehen, dass es nicht mehr besser werden wird. Das hat mir zwar wehgetan, aber ich war irgendwie doch darauf vorbereitet, als er dann wirklich gestorben ist nach zwei Wochen Qual. Als er dann aufgebahrt in der Stube lag, sagt der Jupp zu mir: Ja, und die zehn Jahre Wohnrecht sind jetzt auch um. Hier bleiben kannst du nicht. Wir brauchen dein Zimmer. Wir kriegen nämlich noch einen Nachzügler. Und das vom Vadder wird Büro.

Ich hab gar nicht gleich gewusst, was der meint.

Nachzügler?

Die Marta mochte mich nicht

Und dann bin ich plötzlich voller Angst gewesen, denn wo sollte ich hin? Es hat mich ja außer dem Jupp und meinem Vater nie einer gebraucht.

Und dann – dieser Schrecken , der war wie ein Loch in mir, das immer größer wurde und mich auffressen wollte von innen –  hab‘ ich mir eine Landesgartenschau-Eintrittskarte gekauft. Obwohl es der allerletzte Tag war und schon Abend. Und natürlich viel zu teuer. Blumen, habe ich gedacht, die muss ich mir jetzt gönnen. Irgendwas muss doch auch für mich sein…  Ich bin über die Wege gelaufen, Blumen habe ich keine gesehen, nur Bäume, und dieses Loch ist immer größer geworden in mir und auf einmal ist daraus roter Zorn emporgestiegen.

Ich bin bei dem Waldpark Ost vorbeigelaufen und habe dann gesehen, dass der Mann, nach dem ich gesucht hatte – ohne es zu wissen, echt –, ganz hoch oben auf einer Leiter stand. Ich habe ihn gerufen, ich wollte, dass er mir hilft, irgendwie. Und er hat nicht gehört und da habe ich einfach an der Leiter gerüttelt. Mit einem leisen Schrei ist er heruntergefallen und irgendwie verdreht liegen geblieben auf der Erde.

Ich war ganz durcheinander. Er hatte das gleiche Karo-Hemd von Aldi an wie ich auch, ich wusste auf einmal gar nicht mehr, ob der tot ist oder ich. Ich habe ihm dann seine Jacke ausgezogen und ihm meine hingelegt und bin fort.

Der Mann auf der Leiter fällt

Warum? Das mit der Jacke? Ich wollte etwas von ihm haben und auch wieder nicht. Ich wollte nicht, dass er friert… Ich weiß es nicht mehr. Ich war völlig durch ’n Wind. Ich dachte, ich wär … nein, ich weiß nicht…

Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Aber in der Zeitung habe ich gelesen, dass ich gestorben bin und dass Jupp mich im Leichenschauhaus angesehen und mich i…denti… i….ident … fiziert hat. Und was von Selbstmord gesagt hat. Und dass er sich Vorwürfe macht. Der und Vorwürfe? Das habe ich keinen Augenblick lang geglaubt. Der war doch froh, dass er mich los war, der Jupp.

Das war am Tag nachdem die Gartenschau geschlossen hatte, endgültig. Deshalb weiß ich es so genau.

Wieso der mich nicht erkannt hat? Es hat mich gewundert und auch wieder nicht. Unsere Familie stammt ja aus dem Münsterland und dort gibt’s immer wieder Leute, heißt es, die das haben: Sie erkennen Menschen nicht an ihrem Gesicht. Sondern nur an dem, was sie anhaben oder an ihrer Stimme. Und reden kann ein Toter ja nicht mehr. Ich habe das nicht, aber der Jupp hat es, aber das weiß außer mir niemand, weil mein schlauer Bruder immer gewusst hat, wie er das versteckt. Ich denke, nicht mal der Vater und die Mutter haben das so richtig gemerkt.

Nur ich.

Und nachher die Marta. Die hat immer gesagt, das ist der Viehdoktor und das da die Kleine von Wegners, was die eine Freundin von der Tochter war und Laura die andere. Sie hat das so gezischt, ohne die Lippen zu bewegen: Da hinten kommt der Mutschler Ferdi, der will sich bloß wieder was borgen. Und der da links ist der vom Zeitungskiosk. Und das da, das ist die Zugehfrau von der alten Jörgens. Die Türkin, du weißt schon. Die ohne Kopftuch.

Ja, wenn die Marta mitgegangen wäre, die hätte gemerkt, dass nur die Jacke und das Hemd richtig waren, aber der Mensch falsch. Aber die war ja nicht dabei. Hat es nicht für wichtig genommen, denk ich. Der hat das mit dem Nicht-mehr-leben-wollen sowieso ganz gut gefallen. Stimmte ja auch irgendwie. Also hat es eine Beerdigung gegeben mit den Leuten, die mich gekannt haben. Viele werden es nicht gewesen sein. Keine teure Kaffeetafel danach in der Wirtschaft. Und kein Bier vom Staat!

Die Gartenschau war dann aus und vorbei und ich war traurig und wirr im Kopf von der Sache mit der Leiter. In der Nacht , nachdem das passiert ist, habe ich auf einer Parkbank geschlafen, sehr kalt war das. Aber am Morgen habe ich in seiner Jacke  Ausweis und Hausschlüssel gefunden und so bin ich einfach der geworden, der ich immer hatte sein wollen: Heiner Soltau. Und keiner hat es gemerkt.  Der Soltau war ja ganz zurückgezogen. Der Jupp war froh, die Marta auch. Und ich war auch zufrieden. Ich habe mir gedacht, dass es so hat kommen sollen. Blöd war nur, dass ich die Dicke von der Gastronomie nicht mehr gesehen habe, weil die war weg mit dem ganzen Festzelt und allem. Die war ja nicht von hier. Vielleicht war es auch besser so – die hatte einen scharfen Blick und hätte womöglich gemerkt, dass wir nicht dieselben sind.

Ich hätte einfach schweigen sollen, sagen Sie? Herr Kommissar! Echt jetzt?

Dem Soltau sein Hausschlüssel?

Und dann war ich Soltau, der Gärtner. So wie es von Anfang an für mich vorgesehen war. Die Gartenschau war vorbei, aber beim Tofall in der Baumschule habe ich einen Job bekommen. So wie es von Anfang an hätte sein sollen. Und Papiere hatte ich ja auch. Heiner Soltau. Manchmal habe ich vorm Spiegel vor mir selbst den Hut gezogen.

Bitte lachen Sie nicht! Ich weiß, es klingt blöd. Aber wie et kümmt, nimmt man et hin.

Es hätte so bleiben können, Herr Kommissar. Hat ja niemandem geschadet.

Gärtner, endlich!

Aber dann habe ich in Soltaus Schublade die Rechnung gefunden, die vom Autohaus. Ich hatte gar nicht gewusst, dass der ein Auto gehabt hatte. Ein Kotflügelschaden und dann umgespritzt. Und in einer Scheune draußen geparkt. Und das Datum! Das hat mich an etwas erinnert, ich wusste nur lange nicht, woran… Winter war es und Schnee. Und da haben wir sie dann gefunden. Und viel Blut.

Ich habe zwei lange Jahre darüber nachgedacht. Wie das zusammenhängt. Und dann habe ich es auf einmal begriffen. Ganz plötzlich, an einem kalten Morgen mit Raureif auf den Bäumen, ist der Groschen gefallen, wie man so sagt. Obwohl wir jetzt Cents haben und so. Da ist nämlich auf der Straße vorm Haus ein Igel überfahren worden, der war noch ganz dünn vom Winterschlaf. Und nur ein ganz kleines bisschen Blut, nicht mehr als ein Fingerhut voll.

Plötzlich hab ichs begriffen

Der Soltau war es! Das war der, der die Mutter umgefahren hat und nicht einmal angehalten. Ein Kerl, der Blumen und Bäume pflegt und der nicht redet und dem Menschen nichts bedeuten. Ein Kerl, der mir Vorbild hat sein sollen. Den ich erst bewundert habe.

Und dann umgebracht.

Das verstehen Sie doch? Der wollte ich dann nicht mehr sein. Keinen einzigen Augenblick mehr. Und deshalb sitze ich jetzt hier, Herr Kommissar, und erzähle Ihnen das alles. Sie werden schon wissen, was zu tun ist.

Sie hätten einfach schweigen sollen, Herr Marek. Oder Herr Soltau. Jetzt müssen wir der Sache natürlich nachgehen, das verstehen Sie doch?

***

Was ist das für eine Krankheit, bei der man Gesichter nicht unterscheiden kann? Mehr darüber in diesem Blogbeitrag zu Prosopagnosie.

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